Über Therapie, Selbsterfahrung, Meditation, und andere innere Wege: Wie sie bei Tara Rokpa integriert werden.
in der Online-Veranstaltungsreihe „TARA ROKPA KENNENLERNEN“, 7. Jan. 2021 – Schriftfassung leicht überarbeitet und ergänzt
Seitdem wir Einführungsveranstaltungen zu Tara Rokpa machen und die Methode in der Öffentlichkeit vorstellen, gibt es ein Problem – wir finden nicht den einen Satz, der bündig erklärt, was Tara Rokpa eigentlich ist. Was haben wir nicht alles durchprobiert an Formulierungen – aber alles wurde der Sache nicht ganz gerecht.
So eine kurze Formulierung wäre schon ein Gebot der Fairness, denn irgendwie müssen Menschen sich orientieren in der Fülle von Dingen, die unsere Aufmerksamkeit beanspruchen. Wenn jeder Anbieter sagen würde: „Probier es einfach mal aus“, dann hätten die Leute viel zu tun.
Es gibt aber auch einen tieferen Grund, warum so eine erste orientierende Einordnung nicht unwichtig ist: Denn unsere Erwartungen bestimmen unsere Erfahrung. Mit welcher Vorstellung wir an eine Methode, an so einen inneren Weg herangehen, bestimmt, was wir in ihm sehen, was wir daran wahrnehmen, wie wir ihn nutzen, und somit letztlich, was er uns bringen kann.
Deshalb ist es keine verlorene Zeit, über unsere Schubladen und Erwartungen nachzudenken, mit denen wir an so eine Methode wie Tara Rokpa herangehen.
Wir haben heutzutage den Kopf so voll mit Kategorien: Psychotherapie, Selbsterfahrung, Selbstfürsorge, Selbstoptimierung, Life-Coaching, Wellness, Achtsamkeit, bis hin zu Meditation, Kontemplation, Religion, und was es sonst noch alles am Markt gibt. Jeder diese Begriffe trägt, mehr oder weniger versteckt, riesige Anforderungen in unserer Wellness- und Happiness-Gesellschaft in sich:
- Wir sollen uns unbedingt um uns selber kümmern, denn nur ein gesunder und glücklicher Mensch ist heutzutage ein guter Mensch.
- Wir sollen intensiv leben, selbstverständlich sollen wir glücklich sein,
- und natürlich sollen wir auch spirituell sein.
Dazu gab es übrigends in den letzten Tagen zwei Artikel in der englischsprachigen Zeitung „Guardian“ mit den schönen Titeln (übersetzt): „Warum wir aufhören sollten, dem Glück nachzujagen“ und „Spiritualität ist ja gut und schön, aber pass auf, dass du kein selbstgerechtes Monster wirst.“
Tara Rokpa – eine Therapie?
Die meisten werden wissen, dass Tara Rokpa begründet wurde von Akong Rinpoche, einem buddhistischen Meditationslehrer aus Tibet. Er beschloss früh, seine Methode, in Abgrenzung zum Buddhismus im engeren Sinne, eine Therapie zu nennen. Für ihn bedeutete das zunächst keine Einordnung innerhalb der Kategorien der Gesellschaft, sondern ein Ethos, eine bestimmte innere Haltung. Dazu später mehr.
Diese Bezeichnung führte aber auch zu Problemen.
Nach dem ersten Blick auf die sogenannte Tara Rokpa Therapie sagten einige, oft Menschen mit professionellen Hintergrund, etwas entgeistert: „Das ist doch keine Psychotherapie, sondern irgendwie etwas anderes.“
Oder: „Ich brauche aber keine Psychotherapie, also brauche ich auch keine Tara Rokpa Therapie“. Oder als Variante davon, oft von praktizierenden Buddhisten vorgebracht: „Ich meditiere doch; Therapie ist nur etwas für solche, die das nötig haben.“
Solche Mißverständnisse sind schade.
Aber vielleicht stimmt es insofern, dass die meisten der Menschen, die sich für Tara Rokpa interessieren, tatsächlich keine Psychotherapie im engeren Sinne brauchen.
Aber: Wenn man Teilnehmer von Vorträgen oder Seminaren im Umfeld des Buddhismus nach dem Grund des Kommens fragt, hört man oft Dinge wie: „Ich interessiere mich für Buddhismus, für Meditation, für die Verbindung von Buddhismus und Psychotherapie“.
Was aber heißt das eigentlich, weshalb dieses „Interesse“?
Wir begeben uns doch in der Regel auf die Suche, auf irgendeine Suche, weil irgendwo der Schuh drückt. Irgendwo tut irgendwas weh, das uns bewegt, etwas zu unternehmen.
Weh tun kann es auf ganz verschiedene Weise: Finanzielle Probleme, Beziehungsprobleme. Emotionale Probleme. Verluste, Krankheit. Ein Gefühl von Mangel – etwas fehlt.
Wir Menschen werden von vielen Dingen geplagt, auf vielen Ebenen, die oft nicht klar auseinanderzusortieren sind.
Oft wird das nur diffus empfunden als ein tiefer Wunsch nach Heilung – ohne dass wir so wirklich wissen, was wir damit eigentlich meinen.
Dann interessiert man sich für alles Mögliche, für Therapie, Meditation, Buddhismus, Religion usw. Man sucht, was könnte das Richtige für mich sein. Ist es Zen? Der Tibetische Buddhismus? Eine Psychoanalyse? Achtsamkeit? Oder liegt es an meiner Ernährung, sollte ich das Gluten weglassen? Oder sollte ich besser „irgendwas mit Körper“ machen: Wu Chi, Yoga, Marathon? Oder doch der Jakobsweg??
Vieleicht ist es an diesem Punkt sinnvoll, etwas tiefer hinzuschauen:
Was suche ich eigentlich?
Was treibt mich?
Welche Funktion soll das, was ich suche, denn für mich haben, wenn ich es gefunden habe?
Und wenn unsere innere Antwort dann erstmal ein großes Fragezeichen ist, dann haben wir schon viel gewonnen.
Wenn wir uns diese diffuse Unklarheit eingestehen, beginnt oft erst die echte Arbeit.
Das Fragezeichen am Beginn von Tara Rokpa
Auch am Anfang der Methode Tara Rokpa stand so ein großes Fragezeichen.
Der Begründer von Tara Rokpa, Akong Rinpoche, war buddhistischer Meditationslehrer, noch aufgewachsen und ausgebildet im alten Tibet vor 1959. Seine Rolle im Leben als Abt eines Klosters war vorgezeichnet, er wurde dafür seit frühester Jugend ausgebildet. Zusätzlich hatte er eine Basis-Ausbildung als tibetischer Arzt, die in ihm eine bleibende Prägung hinterließ, ein ärztlich-therapeutisches Ethos, das quasi als Grundierung sein ganzes Leben durchzog. Er begegnete den Menschen als Arzt und Helfer, nicht als Meister oder Guru.
Nach der dramatischen Flucht aus Tibet und einigen Jahren in Indien gelangte Akong Rinpoche nach Schottland und eröffnete dort 1967, zusammen mit Chögyam Trungpa Rinpoche, das Meditationszentrum Samyé-Ling. (Ausführlicher finden Sie die Geschichte u.a. im Film „Akong – A Remarkable Life“).
Als sie dort in Schottland die Türen öffneten, erlebten sie dann die oben geschilderte Situation: Menschen kamen und baten: „Lehre mich Buddhismus; bring mir die Meditation bei; gib mir die höchsten Lehren des Mahamudra, eine Mahakala-Initiation“ – undsoweiter.
Akong Rinpoche, der ein sehr bodenständiger Mensch war, empfand das oft als einen eher hilflosen Versuch etwas zu artikulieren, was die Menschen selbst nicht klarer oder anders formulieren konnten. Oft schien das Problem grundlegender zu sein als ein bloßer Mangel an Meditationsanweisungen.
In vielen Menschen, die zu ihm kamen, sah Akong Rinpoche ein Ungleichgewicht zwischen Intellekt und Persönlichkeitsentwicklung. Es waren kluge, aufgeweckte Leute, aber er sah in ihnen eine Verletzlichkeit, eine fundamentale Unsicherheit, oft auch eine Unfähigkeit, tiefe Bindungen einzugehen und zu halten.
Das kannte er so nicht.
Wer in Tibet ernsthaft den buddhistischen Weg ging, machte das auf der Basis einer festen Persönlichkeit, eines starken Ich, um nicht zu sagen mit der Dickschädligkeit der osttibetischen Nomaden, die aus einem engen Familienverbund mit verläßlichen Bindungen kamen, und die kaum etwas aus dem Konzept bringt.
Akong Rinpoche sagte mal: Um in Tibet jemand zum Nachdenken oder zur buddhistischen Praxis zu bringen, musst du kräftig draufhauen. (Zitat) Im Westen mussten die Leute erstmal gepflegt und aufgebaut werden.
Und so nahm er seine therapeutische Grundhaltung als Arzt, und seine eigenen Erfahrungen mit Flucht und tiefer Verunsicherung durch die Flucht und die fremde Kultur, um den Menschen etwas zu geben, das nicht anders ist als Buddhismus, aber die Menschen woanders abholt.
Therapie und Buddhismus – aus buddhistischer Sicht
Erst im Nachhinein wird klar, wie ungewöhnlich sein Unterfangen war.
Akong Rinpoche war einer der wenigen Meditationslehrer, die die Verbindung von Therapie und Dharma von buddhistischer Seite her dachten.
Viele von Ihnen werden eine Vorstellung davon haben, wie in den letzten 100 Jahren versucht wurde, den Buddhismus im Westen, im Abendland, zugänglich zu machen.
Bis heute gehen die Bemühungen um eine Integration von Buddhismus und Meditation in unser westliches Leben in der Regel von amerikanischen und europäischen Protagonisten aus. Oft waren dies Psychologen und PsychotherapeutInnen, und ihre Erziehung, ihr Beruf, ihr Menschenbild, ihre Blickrichtung von West nach Ost bestimmte ihre Herangehensweise und das Ergebnis – gewollt oder ungewollt.
Weniger bekannt ist, dass auch viele der asiatischen Lehrer des Buddhismus, die solche Ost-West-Brücken seit dem 19. Jh. geschlagen haben, eine westliche Erziehung und Ausbildung genossen haben, z.B. S.N. Goenka, D.T. Suzuki, Thich Nhat Hanh u.v.a.m. Daher enthält auch ein scheinbar authentischer asiatischer Buddhismus aus Indien, Südostasien und Japan nach den Jahrhunderten des Kolonialismus bereits viele westliche Elemente, z.B. aus Protestantismus, Romantik, und Psychologie.
Anders war es bei Akong Rinpoche. Da er vor seiner Flucht aus Tibet keinen westlichen Kontakt oder gar Ausbildung hatte, kam er, als einer der ersten tibetischen Lehrer, mit einer ganz frischen Sicht in den Westen. Und so dachte er die Verbindung von Therapie, Heilung, menschlicher Reifung einerseits, und der buddhistischen Lehre andererseits, von buddhistischer Seite her – aus der Sicht seiner Ausbildung, seiner Lebenserfahrung, seines Menschenbildes.
Und das macht auch Tara Rokpa besonders, und anders als viele weitere Entwicklungen in diesem Bereich zwischen Therapie und Buddhismus.
Eine Therapie entwickeln
Nach diesen geschilderten Erfahrungen wollte Akong Rinpoche eine Methode, eine Therapie schaffen, die den Menschen ein Set aus ganz bestimmten Bedingungen zur Verfügung stellt: Einen Satz von Bedingungen, die geeignet waren, Menschen bei der Bearbeitung ihrer persönlichen Hindernisse zu unterstützen, und der gleichzeitig kompatibel ist mit den ersten Schritten auf einem meditativen Weg.
Anders formuliert könnte man sagen: Seine Tara Rokpa Therapie ist ein beständiges Herstellen von Bedingungen, unter denen Menschen wieder in ein natürliches Gleichgewicht finden können, in denen sich wieder Selbstregulation einstellen kann.
Die erste Bedingung dafür ist eine enge, aber nicht zu enge Gruppe, die sich über mindestens zwei Jahre gemeinsam durch diesen Prozess arbeitet. Mit ganz bestimmten Vorgaben für diese Zusammenarbeit.
Das zweite war eine Serie von Übungen, die er selbst dafür entwickelt hat, scheinbar einfache Übungen, die diesen Prozess voranbringen.
Dazu kamen weitere Bausteine wie kreative Kunstarbeit, Körperarbeit und einiges mehr, aus verschiedenen Quellen. Eine Art Medley von Methoden, die zu einer inneren Veränderung führen können, und sich dabei ergänzen.
Die Details dazu sind Themen für einen anderen Tag. Sie finden sich auch in unseren schriftlichen Materialien, auf der Website, in meinem Buch und so weiter.
Keine übliche Psychotherapie, sondern ein Entwicklungsprozess und Übungsweg
Nach dieser Beschreibung wird nochmals klarer, warum dies kein psychotherapeutisches Vorgehen im engeren Sinne ist. Die Methode arbeitet nicht mit einer therapeutischen Beziehung zu einer bestimmten Person. Sie hat auch keinen Therapieplan auf der Basis einer bestimmten Diagnose, oder individuell ausformulierte Therapieziele.
Akong Rinpoches Tara Rokpa Therapie liefert nicht Problemlösungen mit Methoden des Buddhismus, sondern Methoden des Buddhismus für Menschen mit Problemen.
Dabei geht es auch nicht nur um Erkenntnis, oder eine Einsicht in unsere Probleme, die dadurch quasi den Knoten lösen soll. Sondern es ist vor allem auch ein Übungsweg.
In einem Vortrag zu Tara Rokpa in Berlin 1995, hat Akong Rinpoche Therapie oder Training als gleichberechtigte Bezeichnungen seiner Methode genannt. Und tatsächlich gab es in unserer ersten großen deutschen Tara Rokpa-Gruppe in den 90er Jahren auch einige Zeit eine Verwirrung darüber, ob wir nun eigentlich Trainees in einer Therapie-Ausbildung sind, oder Klienten einer Therapie. Und das war kein absichtlicher Etikettenschwindel, sondern hat mit dem grundlegenden Selbstverständnis der Methode zu tun.
Training heißt, wir üben uns in etwas; in der Psychotherapie spricht man von übenden Verfahren. Üben geht aber weit hinaus über Therapie, ist ein viel weiteres Feld. Der Philosoph Peter Sloterdijk spricht von einem „Leben in Übungen“. Er meinte sogar, dass das das ist, was Menschen heute in Religionen suchen – eigentlich wollen sie sich übend weiterentwickeln.
In diesem Sinne ist Tara Rokpa nicht – nur – eine Therapie, sondern ein übender Entwicklungsprozess.
Entwicklung und Reifung als Teil des menschlichen Lebens
Die Idee eines inneren Wegs, eines Erkenntnis-, Entwicklungs- und Reifungsprozesses ist keine ausschliesslich buddhistische oder asiatische. Schon die Philosophenschulen im alten Griechenland, wie die Stoiker, Epikuräer usw., haben versucht, solche Prozesse zu bewirken, eudaimonia herzustellen, „einen guten Geist in uns“. Auch dort gab es kognitive Anteile, das Philosophieren; aber auch Übungen, das Herstellen förderlicher äußerer Bedingungen in der Lebensweise, und Unterstützung durch eine Gemeinschaft. Später gab es die Vorstellung vom „Tugendwandel“, der über das Einhalten von Regeln hinaus eine innere Entwicklung als persönliche Laufbahn implizierte.
In der westlichen Psychologie, der Entwicklungspsychologie, haben wir uns lange Zeit zunächst mit der (früh)kindlichen Entwicklung befasst, und den Dingen, die dabei schief gehen können (Piaget, Mahler, Bowlby usw.). Zunehmend kam dann auch die moralische Entwicklung des Menschen und seine Entwicklung als Erwachsener bzw. über den ganzen Lebenszyklus in den Fokus (Kohlberg, Kegan usw.).
Der Harvard-Psychologe Erik H. Erikson (1902-1994) beschrieb dabei das Leben als eine Abfolge von Phasen, die aufeinander aufbauen und uns in verschiedenen Lebensaltern vor unterschiedliche Entwicklungsaufgaben stellen, dargestellt jeweils als Konflikt zwischen zwei Polen, wie Ur-Vertrauen vs. Ur-Mißtrauen. Wenn eine Phase nicht einigermaßen zufriedenstellend bewältigt ist, wird dies auch die folgenden beeinflussen.
Der Verlauf dieser Phasen entscheidet, ob wir Eigenschaften entwickeln wie Urvertrauen, Autonomie, Initiative, Werksinn, Identität; Fähigkeit zu Bindung, Intimität und Solidarität; dass wir Bleibendes schaffen; an die kommenden Generationen und die ganze Menschheit denken; und am Ende auch Abbau und Verlust integrieren können; oder ob wir durch Scham, Schuld, Unsicherheit, Verletzlichkeit, Unzulänglichkeitsgefühle, Verzweiflung usw. gehemmt bleiben.
Das sind durchaus Entwicklungsaufgaben, wie sie auch innerhalb des Tara Rokpa-Prozesses angesprochen werden. Inwieweit sie unter entsprechenden Bedingungen nachgeholt werden können, ist eine individuelle Frage, die nicht allgemein zu beantworten ist.
Ich habe bisher einen Entwicklungsprozess geschildert, der den Menschen quasi von außen betrachtet. Aber es gibt natürlich auch die Innenansicht von all diesem.
Selbsterkenntnis aus der eigenen Lebenserfahrung
Der Mensch hat eine ganz besondere Gabe oder Fähigkeit, die wir meist als selbstverständlich empfinden: Wir haben ein Innenleben. Wir können nach innen schauen, in eine innere Welt, in der Erleben stattfindet. Wir können uns dieses Erlebens und unserer Erfahrungen als solche bewußt werden, dass wir eine Lebenswelt erfahren. Und wir können in gewissen Grenzen sogar die Qualität dieser Erfahrung beeinflussen oder verändern.
Wenn das Wetter schlecht ist, dann können wir sagen: „Das Wetter ist schlecht“. Dazu braucht es keine Innenwelt. Wir können uns aber auch dessen bewusst werden, dass wir das schlechte Wetter erleben. Und wir können dann auch zu uns sagen: „Nun mach kein so ein Drama draus, heute hättest du sowieso keine Zeit zum Spazierengehen“.
Diese Innenschau kann auf ganz unterschiedlichen Ebenen verstanden werden. Wir haben eine Alltags-Introspektion – wie gehe ich damit um, dass das Wetter schlecht ist; oder eine Introspektion im psychologischen Sinne, bezüglich unserer Emotionen, unseres Verhaltens, bis hin zur Untersuchung des Bewußten und Unbewußten im psychoanalytischen Sinne. Wir können uns mit unserer Innenwelt beschäftigen, indem wir Tagebuch schreiben, abends auf den Tag zurückblicken, indem wir kontemplieren oder meditieren. Subtilere Ebenen der meditativen Innenschau ziehen sich durch die verschiedensten Traditionen, vom delphischen gnṓthi seautón (erkenne dich selbst), über das „Wer bin ich“ (Nan Yar) von Ramana Maharshi, das Zen-Koan vom ursprünglichen Gesicht, oder Formen der Einsichtsmeditation im Buddhismus.
Selbsterkenntnis im Sinne von Tara Rokpa kann all diese verschiedenen Dinge heißen. Das ist eine besondere Eigenschaft der Methode, dass die offenkundigeren Aspekte die subtileren nicht verdecken, sondern diese immer auch schon im Hintergrund mitklingen, mitschwingen.
Zurück zu den Anfängen
Wie geht das in der Praxis? Bei Tara Rokpa ist das eigene Leben, der Blick auf das eigene Leben, das Anschauungsmaterial, welches wir für diese Erkenntnisse benötigen.
Wir haben alle haben schon eine Menge gelebtes Leben und Erfahrungen hinter uns. Und so nutzen wir dieses in den ersten ungefähr zwei Jahren des Prozesses für einen langen, gründlichen Blick auf uns selbst. Mit Hilfe einer bestimmten Methodik schauen wir unser Leben an, um uns besser kennenzulernen und auch Schlüsse daraus zu ziehen. Wenn wir dazu das eigene Leben nutzen, dann lernen wir uns selbst aus erster Hand kennen. Nicht die Meinungen anderer über uns, keine Allgemeinplätze oder gängige Urteile, sondern der direkte Blick in die eigene Art und Weise, sich selbst und die Welt zu erleben.
Diese Untersuchung des eigenen Lebens ist kein leichtes Unterfangen. Es ist eine Konfrontation nicht nur mit dem, was mit uns geschehen ist, sondern auch was wir daraus gemacht haben, und wie wir gehandelt haben.
Akong Rinpoche beschreibt es so: „Der erste Teil meiner Therapie ist: der Situation ins Gesicht schauen. Facing the situation. Nicht wegzurennen, wir sind fertig mit dem Wegrennen, das haben wir schon genug gemacht.“
Gleichzeitig ist es eine Chance für einen frischen Blick auf uns selbst, der nicht schon den Mustern und Narrativen folgt, an die wir uns seit langem gewöhnt haben.
Diese Phase heißt „Back to Beginnings – Zurück zu den Anfängen“. Sie sollte vielleicht besser heißen: Zurück zum Anfängergeist. Wie mit den Augen des Anfängers frisch schauen.
Darüber gäbe es unendlich viel zu erzählen. Es gibt unglaublich vielfältige und unterschiedliche Arten, wie Menschen dieses Projekt angehen und nutzen. Das sehen wir in jeder Gruppe, und sind immer erstaunt und begeistert, auf wie viele und tiefe Arten Menschen diese Möglichkeit nutzen. Auch dies wieder ein Thema für einen anderen Tag.
Ein Grundprinzip dabei ist, dass diese offene Gegenüberstellung mit dem eigenen Leben immer auch kombiniert wird mit Möglichkeiten für ein positives Selbstempfinden oder Selbsterleben in den Übungen, in der Kunstarbeit. Hinweise auf unsere Entwicklungspotenziale sind immer bereits in den Übungen vorhanden. Dadurch bleiben wir nicht im Negativen, auch wenn die Erinnerungen an unser Leben manchmal belastend sind, sondern werden zu einer ausgewogeneren Sicht mit Betonung auf Entwicklung und Veränderung angeregt.
Der transdiagnostische Blick
Oft wird dieser erste Hauptteil des Tara Rokpa-Prozesses als die eigentliche Therapie bezeichnet, oder als der Teil, der am meisten einer Therapie entspricht, denn dort geht es um die Auseinandersetzung mit den eigenen Problemen und problematischen Erfahrungen. Aber eigentlich ist das schon wieder eine westliche Sicht. Akong Rinpoche selber sah diese Phase als die Diagnostik, und alles was dann später kommt, die eigentliche Therapie – in seinem, buddhistischen Sinne.
Vielleicht sollten wir diese Erforschung unseres Lebens statt „diagnostisch“ besser „transdiagnostisch“ nennen (Greeson et al 2014). Damit ist gemeint, dass es um grundlegende menschliche Verhaltensweisen geht, die nicht unbedingt einer bestimmten Störung oder Diagnose zugeordnet werden müssen. Sie sind allgemein menschlich, und wir können sie auch nicht leicht auftrennen in Therapieprobleme und Meditationsprobleme. Menschliche Probleme neigen dazu, sich vertikal durch die Ebenen zu ziehen.
Einige Beispiele: Negative Affekte, wie Angst und Depression; emotionale Reaktivität wie Aggression, Ärger und Neid; persistierende negative; ein Vermeiden von Erfahrungen, die unsere Perspektive erweitern könnten; das Umdeuten von Tatsachen, so dass sie in die eigenen Vorurteile passen; das Unterdrücken von Aspekten unseres Erlebens – all das sind wichtige Themen, sowohl in einer therapeutischen Sicht des Menschen ebenso wie auf seinem meditativen Weg.
Selbsterkenntnis jenseits von uns selbst
Das soll aber nicht heißen, dass sich der buddhistische Hintergrund im Laufe des Tara Rokpa-Prozesses nicht mehr und mehr zeigt.
Die meisten Menschen verstehen Selbsterkenntnis zunächst so, „dass ein Mensch seinen eigenen Charakter, seine Eigenschaften, das, was er ist, und warum er oder sie so geworden ist, besser versteht.“ Dann gibt es auch die Idee, „zu entdecken, was man selbst eigentlich wirklich will, wie man sich selbst verwirklichen kann, wie man das werden kann, was man jenseits der gesellschaftlichen Zwänge und der familiären Prägungen »eigentlich« sein will.“ (Bauberger 2019)
Aber im Laufe des Tara Rokpa-Prozesses wird zunehmend klarer, dass auch diese Idee, „Werden, was wir »eigentlich« sind“, ein Konzept ist, und abhängig von Bedingungen und Kontexten.
In dem Moment, wo wir tiefer gehen mit der Selbsterkenntnis, geht es über das Selbst, das Ich, hinaus. Wir suchen nach Selbsterkenntnis, um zu erkennen „wer wir wirklich sind“ – und entdecken dabei, dass wir mehr sind als bloß wir selbst.
Der Zen-Meister Dogen (1200 – 1253) sagte: „Das Selbst erkennen, heißt das Selbst vergessen.“
Mitgefühl als zentraler Wert
Weniger an sich selbst denken und mehr an andere ist eine der Grundempfehlungen des Mahayana-Buddhismus. Auch an diesem Punkt ist Tara Rokpa eindeutig buddhistisch inspiriert – in einer Weise, die zunehmend auch in der Psychotherapie als wertvoll erkannt wird: in der zentralen Rolle, die dem Mitgefühl zukommt.
Darüber wird es auch noch viel zu hören geben. Vielleicht als kurze Andeutung zum Schluss:
Wenn wir uns uns selbst in freundlicher Weise zuwenden, dann setzt dieses einen Prozess in Gang. Aus Freundlichkeit zu sich selbst wird Freundlichkeit zu anderen, daraus wird Güte, aus Güte als Grundeinstellung entsteht eine nicht-unterscheidenende Haltung, die keinen Unterschied zwischen Menschen macht, wer sie auch sind. Aus einer nicht-unterscheidenden Güte entsteht echtes, universelles Migefühl. Als weiterer, und nun eindeutig buddhistischer Schritt folgt dann die Entstehung von Bodhicitta, dem Geist des Erwachens.
Das heißt nicht, dass alle, die Tara Rokpa machen, all diese Schritte durchlaufen müssen. Auch wer wegen persönlicher Probleme kommt, und gar nichts anderes beabsichtigt, ist herzlich willkommen!
Für Akong Rinpoche bezeichnet die Bezeichnung „Therapie“ ein Geschenk ohne Verpflichtungen gegenüber den Gebenden. Seine Methode fordert keine Zugehörigkeit zu einer religiösen Hierarchie oder buddhistischen Organisation; keine Verehrung einer Priesterkaste; keine Annahme religiöser Glaubenssysteme, Verpflichtungen oder Zwänge.
Aber: Das impliziert keine Beliebigkeit, keinen Verzicht auf ethische Grundhaltungen.
Im Gegenteil.
Akong Rinpoche geht aus von einem Idealbild des Menschen als Helfer.
Dieses Ideal hat er bereits im Namen festgeschrieben: Sowohl das tibetische Wort ROKPA als auch die eigentliche Wortbedeutung des griechischen Wortes THERAPEUT heißt beides Mal HelferIn, BegleiterIn, Beistand. Jemand, die oder der jemand anderem beisteht.
In diesem Sinne ist ein/e TherapeutIn bei Tara Rokpa gerade keine Expertin, kein Heiler, der von außen eingreift, und auch kein Guru oder Lehrer auf einem Thron, sondern eine Begleitung auf gleicher Ebene. Möglichst mit Bescheidenheit und ohne Selbstüberschätzung – so gut man das eben kann.
Dieses Bild vom Menschen als Helfer, diese Einstellung war Akong Rinpoches Verständnis des Bodhisattva-Ideals – kein Held oder Heldin, kein Superman oder Wonder Woman.
Sondern einfach jemand, die oder der sich darin übt, immer mehr für andere nützlich zu sein. In diesem Sinne sind auch alle TeilnehmerInnen an diesem Prozess seine potentiellen „therapeutés „: Jemand, die oder der andere begleitet, unterstützt.
Das heißt nicht, dass man darin weit gekommen oder gar vollkommen sein muss.
Es heißt erstmal nur, dass man diese Ideale bejaht: Eine Grundhaltung eines weiten Geistes, der unendliche, oder fast unendliche, positive Entwicklungen für möglich hält. Sogar bei sich selbst! Und der im Grundsatz bejaht, das Erreichte auch anderen zur Verfügung zu stellen.
Das ist unser therapeutisches Grundprinzip.