Beitrag von Ulrich Küstner in „Lotusblätter – Zeitschrift für Buddhismus“ (seit 2003: „Buddhismus aktuell„) Heft 1/1997. Gering überarbeitete Fassung
Akong Rinpoche, früherer Abt von Dölma Lhakhang in Ost-Tibet, Mitbegründer und jahrzehntelanger Leiter von Samyé-Ling, dem ersten tibetisch-buddhistischen Kloster im Westen, hat lange Erfahrung mit den Mißverständnissen und Problemen westlicher Dharma-Schüler: „Sie neigen dazu, in ihrem Geist einen separaten Bereich einzurichten, in dem sie hingebungsvoll Buddhismus studieren und praktizieren. Aber es ist nicht ihre ganze Person beteiligt, sondern ein herausgenommener Teil ihres Lebens.“
Wie werden wir ganz beteiligt? In unserem westlichen Verständnis von uns selbst und unserer Erfahrung spielen die Ereignisse dieses Lebens. besonders die unserer frühen Kindheit, eine große Rolle. Die Beschäftigung damit wird in traditionellen buddhistischen Lehren nicht ermutigt. Aber ein Ignorieren der psychologischen Ebene birgt die Gefahr, unsere wunden Punkte vor unserer buddhistischen Praxis zu verstecken und wichtiges Potential ungenutzt zu lassen.
Aber unser westlicher Hintergrund hat noch andere Folgen. Wenn wir Dharma als Religion verstehen, wenden wir unbewußt frühere Erfahrungen mit Religiosität auf ihn an, und geraten in subtile Mißverständnisse zum Beispiel in den Bereichen Autorität. Heilserwartung von außen und Schuldgefühl. Der vergleichsweise unbelastete Begriff ‚Therapie‘ scheint eine nützlichere Metapher für den Weg des westlichen Anfängers zu sein als ‚Religion‘ oder ‚Spiritualität‘. In einer Psychotherapie darf ich böse oder schlecht sein: auf einem religiösen Weg muß ich heilig werden.
Traditionelle Religionen gehen von einem stabilen. naiv selbstsüchtigen Ich aus und erzeugen eine therapeutische Spaltung. die eine Selbst-Reflexion erst möglich macht. Für Menschen dieses Jahrhunderts. mit unserem niedrigen Selbstwertgefühl und fragruentierten Selbst. ist dies kontraproduktiv. Es führt zu weiteren Spaltungen. wo noch kein wohl-integriertes Selbst vorhanden ist. Die Betonung des ‚Loslassens des Ego‘ reaktiviert und verstärkt für viele noch die Ablehnungserlebnisse ihrer frühen Erfahrungen.
Überreste frühkindlicher Versagungssituationen führen in unserer Gesellschaft zu einem chronischen Hunger und inneren Leeregefühl (die sog. ,Grundstörung‘ nach Michael Balint). Mark Epstein schreibt. dies sei ein neues Phänomen in der Geschichte des Buddhismus: Noch nie hätten so viele hungrige Geister buddhistische Praxis geübt! (M. Epstein: Gedanken ohne den Denker. Wolfgang Krüger Verlag. 1996)
In der von Akong Rinpoche und einer Gruppe westlicher Therapeuten entwickelten Tara Rokpa-Therapie geschieht idealerweise beides zugleich: das Durcharbeiten der Erfahrungen dieses Lebens und das Projekt. daraus ein tieferes Verständnis des menschlichen Geistes und menschlicher Erfahrung zu entwickeln. Tiefe Prinzipien werden in direkte Erfahrung auf der Alltagsebene übersetzt – die besondere Fähigkeit und Stärke von Akong Rinpoche. Die so entstandene Methode hat einen Stil, der sich einerseits von traditionellen buddhistischen Wegen unterscheidet. andererseits mehr ist als ,nur‘ eine Psychotherapie. obwohl sie durchaus therapeutisch wirkt.
Dabei wirkt keines der Elemente der Arbeit auf den ersten Blick besonders oder gar spektakulär. Die einzelnen Methoden sind jedoch fein aufeinander abgestimmt und von einer buddhistisch inspirierten Grundhaltung getragen. Besonders ist daran die Leichtigkeit. mit der die Grundkonzepte sowohl und gleichzeitig im Dharma als auch in westlich-therapeutischer Erfahrung und Konzeption einen Sinn ergeben. Als Beispiel eine kurze Zusammenfassung der Übung ,Offenheit‘: Nach anfänglicher Entspannung und Atemübung lassen wir alles durch unseren Geist ziehen, was da ist und kommen mag. an Gedanken. Gefühlen, Wahrnehmungen. Insbesondere lassen wir auch zu. was wir negativ oder schlecht finden, uns unerwünscht und schmerzhaft ist. Wir stellen uns dann einen leeren Raum vor: in diesem ein sich nach außen öffnendes Tor: und wir atmen all diese Gedanken und Gefühle durch das Tor in den Raum hinein aus. wo sie sich in goldenes Licht. das Licht des unbegrenzten Mitgefühls verwandeln. Dies bringt allen Lebewesen Hilfe, Glück und Befriedigung ihrer Bedürfnisse. und schließlich auch uns selbst. (Ausführliche Übungsanleitung in: Akong Rinpoche, Den Tiger zähmen, Theseus 1993)
Diese Übung führt zunächst einfach zu einer großen Erleichterung. Es ist alles erlaubt. was in einem ist. Es ist sogar ganz direkt nützlich, und zwar jetzt. im alltäglichen Geisteszustand, nicht erst später einmal. bei ,höheren Übungen‘. Dies führt zu einer tiefen Entspannung, zu einer Entlastung von Über-Ich-Ansprüchen und zu einer relativen Ich-Stärkung. Die Erleichterung macht dankbar und reduziert den Widerstand dagegen. anderen zu helfen. Die Erlaubnis. daß wir schätzen dürfen, was in uns ist, vermittelt das Gefühl. daß wir auch von anderen geschätzt werden können und wir die anderen wertschätzen können. Die Übung fordert kein bestimmtes Ergebnis; nichts ist daran solide oder endgültig. Wir machen nur das, was wir können, und erleben daher, daß wir es können. Etwas zu können, hebt das Selbstwertgefühl und stärkt die Motivation, weiter zu üben. Wir verhalten uns, als ob wir schon wären. was wir werden können, und ändern damit das gesamte innere System. Wir reduzieren Spaltungen: gute und schlechte Repräsentanzen werden vereinbarer.
Aus buddhistischer Sicht ist diese reale Erfahrung von Erleichterung. Nachlassen der Schwere unserer Probleme. der erste Beginn eines Verständnisses der Nicht-Existenz eines wirklichen, soliden Ich. Dabei wird paradoxerweise das Ich gleichzeitig gestärkt (im westlich-psychotherapeutischen Sinne) wie auch durchlässiger und transparenter (im buddhistischen Sinne).
Die Konzepte von Tara Rokpa weisen viele Ähnlichkeiten mit den Grundthemen der humanistischen Psychologie auf (Rogers, Maslow u.a.): Offenheit für die eigene Erfahrung, Rationalität. persönliche Verantwortlichkeit, Selbstwert, Fähigkeit zu guten persönlichen Beziehungen, ethisches Leben. Tara-Rokpa-Therapeutinnen und -Therapeuten haben unbedingtes Vertrauen in und Wertschätzung für das grundlegende Potential des Menschen. Durch Entspannung geben wir diesem Potential Raum. Raum ist eine erlebbare Metapher für Leerheit, für die Freiheit von einer letztgültigen, für immer versklavenden ,Realität‘ des Ich und aller Phänomene. Alles spielt sich im Raum ab, kann im Raum da sein. nichts muß abgespalten und verdrängt werden. Wir können authentisch sein. weil auch das Negative sein darf.
Dies ist kein ,alles-geht‘-Nihilismus westlicher Prägung. Vertrauen in das positive Potential und Authentizität sind in Tara Rokpa nicht nur Therapeuteneigenschaften, sondern ebenso zu entwickelnde Eigenschaften der Teilnehmer/innen. Mitgefühl ist immer Ausgangspunkt und Ziel zugleich.
Eine erkenntnistheoretische Basis für diese Arbeit ist die Forschung über die biologischen Grundlagen menschlicher Erkenntnis (Maturana, Varela u.a.). Besonders Francisco Varela versucht, eine Brücke zwischen westlicher Kognitionsforschung und der buddhistischen Achtsamkeit/Gewahrseins-Tradition zu schlagen. Hier wie da gibt es kein Ich und keine Welt. und hier wie da ist eine Haltung von Mitgefühl/Erbarmen die notwendige Folgerung – ,Erbarmen in einer bodenlosen Welt‘ (F. Varela. E. Thompson, Eleanor Rosch: Der Mittlere Weg der Erkenntnis, Goldmann, 1992).
Mit den Kernbegriffen Raum, Transparenz und Mitgefühl ist Tara Rokpa letztlich nichts anderes als Mahayana-Buddhismus. Was man lernt, ist dasselbe: wie man es lernt, ist anders – spielerischer, direkt an der eigenen und individuellen Lebenserfahrung anknüpfend. Tara Rokpa gibt nicht vor, wie der persönliche Weg auszusehen hat und welche Erfahrungen man auf ihm machen soll. Wer übt, wird sein eigenes Verstehen entwickeln. Es ist ein Zugang zum Dharma für den westlichen Geist: ein Neubeginn. der unsere kreativen, spielerischen Energien nutzt.
Spielen ist an sich schon Therapie, sagt D. W. Winnicott (Vom Spiel zur Kreativität, Klett-Cotta, 1974). Auch buddhistische Erkenntnis zeigt ihre Kraft im Spielerischen, in einem ,als ob‘-Umgang, der gut zu den grundlegenden Prinzipien von Nicht-Solidität und Ich-Losigkeit paßt. ,Buddha spielen‘ ist die große Erleichterung. Wirkliche Ernsthaftigkeit und die Einbeziehung unseres ganzen Lebens werden dadurch leichter.
Dr. Ulrich Küstner arbeitet als Arzt und Psychotherapeut in Berlin. Er ist seit 1978 Schüler von Akong Rinpoche und seit 1991 Teilnehmer am Tara Rokpa Therapieprozess. Seit Juli 1998 Tara Rokpa Therapeut mit abgeschlossener Ausbildung (Edinburgh/Dublin).