Beitrag von Petra Niehaus in: „Lotusblätter – Zeitschrift für Buddhismus“ (seit 2003: „Buddhismus aktuell„) Heft 1/97. Gering überarbeitete Fassung)
Zurück zu den Anfängen
Schon bevor ich zum Tara-Rokpa-Therapie-Prozeß kam – das war Anfang 1991 – war ich im Dharma. Ich hatte Belehrungen verschiedenster Meister gehört und schließlich einen Meister, eine Sangha und darin ein Zuhause gefunden. Mein Herz war berührt und vor allem mein Kopf, der alte Sichtweisen verlor und sich für nie Geahntes öffnete. Aber ich hatte Schwierigkeiten, den Dharma in den Alltag zu integrieren: Ich haßte es zu sitzen, ich haßte oft genug den Meister und schämte mich abgrundtief dafür, jemanden zu hassen, der mir doch den Nektar der Weisheit geradezu einträufelte. Jahrelang quälte ich mich stillschweigend mit dieser Negativität, unfähig darüber nachzudenken, weil dann nur noch mehr Angst und Scham hochkamen.
Im Tara-Rokpa-Training wagte ich es schließlich, über meine Schwierigkeiten zu reden. Brion, unser Therapeut, fragte: ,,Hat der Meister dir etwas angetan?“ Natürlich war das nicht so, das Gegenteil war der Fall. ,,Dann ist es eine Übertragung.“ Da hätte ich doch auch selbst drauf kommen können, kam ich aber nicht, weil das Tabu so gewaltig war. ,,Der Dharma ist exzellent. wenn wir ihn richtig verstehen. Doch meist folgen wir nur unserer Idee vom Dharma, praktizieren Dharma als rigides System. Und manchmal hindern uns unsere Emotionen, weil sie einfach zu schmerzhaft sind“ (Akong Rinpoche).
Hier kann eine psychologische Betrachtungsweise helfen, und mir hat sie sehr geholfen. Im Tara-Rokpa-Training lernen wir, den Dharma von uns und unseren positiven wie negativen Erfahrungen ausgehend zu begreifen, egal wie wir sind. Dabei kann jede/r Interessierte den Therapie-Prozeß machen. Es ist nicht nötig, buddhistisch orientiert zu sein.
Zu Beginn des Therapieprozesses, für die Dauer von ca. zwei Jahren, rekapitulieren und bewerten wir schreibend unsere eigene Geschichte, unterstützt durch Übungen aus der Familien- und Kunsttherapie. Wir erinnern uns dabei von heute zurück bis zum ersten Jahr, von dort bis heute, dann wieder zurück zur Geburt. Hier schließt sich ein Retreat an, auf dem wir unsere Geburt nachempfinden, um dann noch einmal neu ins Leben zu kommen. Durch Atemübungen und Massagen lernen wir gleichzeitig, auch im Körper immer mehr loszulassen. Während einer gewissen Zeitspanne arbeiten wir zudem intensiv mit den Elementen (Erde, Wasser, Feuer, Luft und Raum), erforschen und erfahren, woraus wir und alle anderen zusammengesetzt sind.
Durch Visualisierungen und Meditation wird die Erfahrung unserer Nicht-Solidität, unser innerster, lichter ,Kern‘, unsere Buddhanatur deutlicher, stärker spürbar, lebendiger. Die Durchlöcherung und das teilweise Abstreifen der alten, ängstlichen Fixierung, wer wir denn seien, trifft auf einen langsam größer werdenden inneren Raum aus Mitgefühl, Liebe und Weisheit.
Wir werden stärker – mehr wir selbst und gleichzeitig weniger!
Das Buch ,Den Tiger zähmen‘ von Akong Rinpoche (Theseus, 1993) beinhaltet all die Übungen, die wir im zweiten Teil des Prozesses gemacht haben. in dem es darum geht, kooperationsfähiger und mitfühlender zu werden. (Manchmal habe ich mich dabei von Übung zu Übung gequält – das Ego machte sich breit mit Abwehr, Dumpfheit und Faulheit!)
In der folgenden Phase der ,Sechs Lichter‘ lernten wir. unsere Emotionen mit der Kraft verschiedenfarbigen Lichts und eines Mantras (OM MANI PADME HUM) zu lösen. Wir tauchten ein in die Welt und die Wirkung der Farben, malten riesige Blätter voll, differenzierten immer mehr, welche Farbe bei welchem Zustand hilfreich ist (zum Beispiel bei Haß aufs Sitzen oder den Meister oder bei Faulheit).
Weil das Malen ein Schwerpunkt des Trainings ist. wurde es immer einfacher, dem Innenraum Gestalt zu geben und mit unserer natürlichen Kreativität vertraut zu werden. Inzwischen haben wir alle eine große Bilder-sammlung. Niemand sagt mehr. daß er oder sie nicht malen könne.
Nach den ,Sechs Lichern‘ entdeckten wir die ,Sechs Bereiche‘. erkundeten Höllen- und Götterwelten, identifizierten die Hungergeister und Eifersüchtigen Götter in uns. entwickelten immer mehr Verständnis auch für die Leiden im Tier- und Menschenbereich. Wir inszenierten ein richtiges Bereiche-Theater. explodierten beim Zusehen fast vor Lachen. so unerträglich war es. die Bereiche mit all dem ihnen innewohnenden Leid zu konfrontieren und auszuhalten – um sie dann mit der Kraft von Licht und Mantra zu heilen. Bei der Bereichearbeit gab es für mich eine einschneidende Desillusionierung. Hatte ich in all meinen Dharrna-Jahren schon oft das Gefühl, daß ich doch ehrlicherweise nur wollte, daß es mir ein bißchen besser geht. daß ich doch weit entfernt davon bin, dem Bodhisattva-Weg zu folgen, so wurde mir in der Auseinandersetzung mit dem Götterbereich klar. daß mein Streben im Dharma im wesentlichen darin bestanden hatte, das verheißungsvolle Glück im Götterbereich zu suchen: ein streßfreies. begünstigtes, sattes und reiches Leben voller Liebe eben. Hier verstand ich jäh und schmerzhaft, daß dieser Bereich eben nur einer von sechsen ist. ein Durchgangsraum nach unten. in wieder neues, altes Leiden – von Befreiung keine Spur!
Heute sind wir am Beginn einer neuen Etappe des Therapie-Prozesses. Erst jetzt sitzen wir formell, kommen zu den Vier Grundlegenden Gedanken (Die Kostbare Menschliche Existenz, Vergänglichkeit und Tod, Leiden. Karma) und zum Geistestraining (Lojong). Natürlich bin ich als ,alte‘ Dharmaschülerin versucht zu denken, daß ich das doch schon kenne. Doch der therapeutische und persönliche Weg, dann wirklich aufzuschreiben und zu malen, was denn zum Beispiel für mich das menschliche Leben so kostbar macht, läßt in mir einen wesentlich direkteren. gefühlsmäßigen Zugang entstehen. Runtergeleiert habe ich die Vier Gedanken oft genug.
Ich habe früher Psychotherapien gemacht, in denen ich versuchte. das Störende und Negative aus mir raus-zulassen und loszuwerden. Mit Trauer denke ich an die Stunden, in denen ich mit Tennisschlägern auf Matratzen einschlug. die symbolisch für meine Eltern standen. In den buddhistischen Lehren heißt es: ,,Wut, Haß und Ärger können niemals Wut. Haß und Ärger zerstören, nur Liebe kann das.“ Die Bereitschaft zur Hinwendung, zur liebevollen Annahme meiner selbst und der anderen braucht Mut und ist befreiend. In Liebe sind die Sachen echt vom Tisch.
,,Im Buddhismus geht es darum. Emotionen weder zu unterdrücken noch auszuleben. sondern sie frei kommen und gehen zu lassen. geradeso wie die Wellen des Meeres einfach kommen und gehen. Je nach Jahres- und Tageszeit und je nach Wetter sind die Wellen verschieden, alle steigen hoch und lösen sich auf, und doch gibt es keinen Speicherplatz für die Wellen. Emotionen wie Gedanken kommen und gehen. Wir selbst nehmen die Emotionen und hängen an ihnen Geschichten. Phantasiegebilde, Erinnerungen und Verhaltensweisen auf und vergessen, daß wir – und nur wir – das Ganze selbst zusammengebaut haben.“ (Akong Rinpoche)
Petra Niehaus ist Autorin und Astrologin in eigener Praxis. Intensive Beschäftigung mit dem Buddhismus seit 1983.