Annie Dibble (2019) Betrachtungen zur Kunstarbeit und zur Verwendung von Kunstmaterialien in der Tara Rokpa Therapie

Annie Dibble im Tara-Rokpa-Magazin Nr. 13/2019

Übersetzung aus dem Englischen von Petra Niehaus und Ulrike Müller-Glodde

Meine ursprüngliche Einführung zum Gebrauch von Kunstmaterialien bei Tara Rokpa bestand darin, sich ihnen anzunähern wie ein Kind, das Farben erforscht, indem es beispielsweise Unterschiede entdeckt, je nachdem ob es mit einem trockenen oder nassen Pinsel malt. Im Ausprobieren findet es seinen Weg und wird zuversichtlich, Pinsel voller Farbe aufs Papier zu bringen und zu entdecken, was passiert, wenn das Papier nass, rau, fein, weiß oder schwarz ist oder wenn es garkeine Farbe aufnehmen kann.

Wie ein Kind…

Der Begriff des Kindergartens wurde oft verwendet. Das betont die Verspieltheit, mit Farben auf einem leeren Blatt zu experimentieren. Wir sind nicht nur bei Pinseln geblieben, sondern haben zum Malen Stöckchen und Hände und Schwämme und alle möglichen Werkzeuge verwendet. Zudem war es interessant, im Verlauf von Zurück zu den Anfängen zu merken, wie dieselben gemalten Zeichen wieder und wieder auftauchen als Linien, Kreise, Punkte und wie sie je nach Stimmung oder Zeitpunkt im Prozess plötzlich auf einer anderen Stelle des Papiers erscheinen. Und manchmal sind ein paar wenige Punkte auf dem Blatt genug und manchmal fordert das Blatt dazu auf, vollständig mit Farbe bedeckt zu werden. Für mich war das hochgradig absorbierend – eine tiefe Meditation.

Der Prozess war entspannend und erdend und meist ohne Nachdenken. Manchmal aber ließ er einige Gedanken oder Ideen erkennen, die darum gerungen hatten, Form anzunehmen. Farben überraschten mich. Manchmal waren sie verbunden mit Stimmungen, manchmal aber auch erkennbar als Farbtöne, die zu gewissen Konzepten gehörten oder Zeitperioden oder Orten oder Leuten.

Eine persönliche Symbolwelt

Durch dieses Sichtbarmachen von Gedanke und Gefühl, Emotion und Idee mittels Farbe, durch das Erkennen von Struktur, durch das Erforschen von Dichte und Dunkelheit und von Helligkeit und Raum entstanden Formen und eine persönliche Symbolwelt schälte sich heraus. Zunächst konnte ich enthüllen, welcher Teil von mir versuchte, sich Gehör zu verschaffen. Indem ich weiter und weiter malte, wurde es möglich, dass dieser eine Stimme oder ein Gesicht bekam und mir Einsichten in seelische Zustände oder gedankliche Prozesse lieferte, die sich beide als hilfreich und nützlich erweisen konnten auf der Reise zum Herzen.

Auf diese Weise erwuchs eine Sprache, die persönlich und kristallklar – zu einem Lackmustest wurde, wann immer ich malte, und die mich auf das hinwies, worauf ich im Inneren schauen sollte und was Bearbeitung brauchte.

In den frühen Tagen von Chögyam Trungpas Zeit in Amerika lehrte er seine Schüler über Kunst und er forderte die Menschen auf, das weiße Blatt als eine offene Leinwand zu betrachten, als einen Ort, wo dem, was im Geist erscheint, eine Form gegeben werden kann, wo es wie auf einer Bühne gespielt werden kann. Er lud die Menschen dazu ein, ihre eigene archetypische Bildersprache zu entdecken … eine ganze innere Welt entsteht aus einem Pünktchen.

Dot painting – Simone

Nach Jack Niland (in einem Interview mit dem „Chronicle Project“) lehrte Trungpa: „In visueller Dharmasprache wäre der Farbklecks auf der Leinwand ein Äquivalent des Dharmakaya oder des Leerheitsaspekts. Eine Linie zu zeichnen wäre der Sambhogakaya-Aspekt und das vollständig gemalte Bild der Nirmanakaya-Aspekt.“

Leeres Blatt – offener Raum

Wir beginnen also mit einem leeren Blatt, dem Raum, in dem Dinge entstehen können. Wir verbinden den ungeborenen Gedanken mit einem Ausdrucksmittel und so manifestieren sich in den ersten Strichen die geistigen Erscheinungen, bis sie schließlich Form annehmen und wir uns des bislang nicht Erkannten bewusstwerden. Wir geben im Akt des Kunstschaffens – Gefühlen eine Form. Durch diesen Stil der Beschäftigung mit Farbe und Kunstmaterial entsteht die Gelegenheit für Einsicht, für Transformation, für Heilung und fürs Loslassen.

Indem dazu ermutigt wird, auf diese Weise mit unserer chaotischen Vergangenheit und unseren unfertigen Erinnerungen zu arbeiten, erwachsen die Mittel, das scheinbare Unzugängliche zu erreichen – sanft und sicher –. Zumindest können wir eine ehrliche Bestandsaufnahme machen, wie die Dinge sind, wenn wir sie nicht sogar mit Wertschätzung betrachten. So zögerte Akong Rinpoche nicht, uns zu sagen, dass ein Bild nicht lügen kann. Was sich uns durch unsere gemalte Bildwelt zeigt, wie spielerisch diese auch sein mag, sie ist immer und schonungslos eine Spiegelung unserer persönlichen Wahrheit.

Ich-Anteile erforschen

Gruppenbilder nebeneinandergelegt…

Es gibt noch andere Ebenen, um die Kunstarbeit insbesondere im Zurück zu den Anfängen-Prozess nützlich zu machen. Für mich wurde das klar, als ich dem Konstruktivismus und Miller Mairs Begriff der Community of Selves, der Gemeinschaft der Selbste, begegnete und erkannte, wie sich weitere Möglichkeiten für die parallele Erforschung unserer konstruierten Wirklichkeiten durch die Kunstarbeit ergeben. Diese Vorstellung war nicht neu, denn als ich den Prozess meiner eigenen Reise durch Zurück zu den Anfängen analysierte, erkannte ich ausgesprochen synchronistische Dynamiken, die sich hier ausdrückten und auf ähnliche Weise verschiedene Aspekte des Geistes und der Persönlichkeit erforschten, die sonst nicht zugänglich oder unsichtbar waren. Indem wir das Gefühl des Ärgers malten, ihm eine Farbe und Textur gaben und fragten, wo es nun auf dem Blatt Papier saß so gaben wir Teilen des „Ich“ eine Form oder Farbe; oder wir erforschten über die Farbe, wie klein oder groß das Gefühl war; oder wir untersuchten, in welchem Verhältnis es sich auf dem Blatt zu einem anderen oder auch verschiedenen Aspekten des Ichs befand. Wir verliehen dem Gefühl auf sehr direkte Art eine Form, gaben ihm die Funktion eines Spiegels oder eine Stimme oder ließen einfach zu, dass sich enthüllte, was bislang versteckt, unannehmbar oder sogar zurückgewiesen worden war. Forschen wir auf diese Weise, können wir den gezeichneten oder gemalten Persönlichkeitsaspekt wiederholte Male besuchen, uns mit ihm „unterhalten“ und seine Kraft oder Macht erkunden. Wir können ihn lebendig werden lassen, indem wir uns beispielsweise fragen: Was will ich damit tun? Oder: Was will ich damit sagen? Was habe ich dazu zu sagen? Was hätte ich gerne, dass es nun geschehen sollte? Dies alles kann Werkzeug für ein Loslassen und für eine Transformation werden und es kann zudem Gefühlen die Macht nehmen, die sie über uns ausüben.

Im Dialog mit der Kunst

Die Jung’sche Psychologie bestätigt dies mit der Feststellung, dass ein solcher das Bild betonende Prozess auf einzigartige Weise geeignet scheint, in eine Interaktion und einen Dialog mit der Kunst zu treten, als eine Art Versuch, Bilder und Psyche zu erforschen und in Beziehung zueinander zu setzen.

… um sie gemeinsam zu würdigen

In jeder weiteren Phase der Tara Rokpa Therapie nutzen wir Kunstmaterialien auf verschiedene und jeweils spezifische Weisen, besonders bei den Sechs Lichtern mit der Erforschung verborgener emotionaler Kräfte, der sekundären Motivation, die hinter dem Offensichtlichen liegt, hinter dem, was wir zeigen. Damit entsteht die Freiheit, das, was offengelegt wurde mit Gegenmitteln – mithilfe einer weitgreifenden Verwendung der Kunstmaterialien – zu transformieren.

Die Tara Rokpa TeilnehmerInnen bewegen sich in einem reichen schöpferischen Feld, wenn sie sich durch die Kraft der Sechs Daseinsbereiche hindurcharbeiten – etwa, wenn sie ihre konstruktiven, nützlichen Erkenntnisse durch Tonarbeit ausdrücken.

Und so geht es immer weiter im Tara Rokpa Prozess…

Ich habe das Gefühl, dass die Art und Weise, wie wir in der Vergangenheit mit Kunstmaterialien umgegangen sind, bedeutsam für den Erfolg des Tara Rokpa Prozesses war. Wir haben die Materialien genutzt, um zu nähren und bereichern, um zu Kreativität, Einsicht, Entspannung und Spaß einzuladen. Die Beigabe von extra viel Wasser zur Farbe hilft, Emotionen zuzulassen; Ton gibt dem Gefühl eine Form, eine Größe, eine Textur, kantig oder rund…

Eine Tara Rokpa Teilnehmerin erzählte mir kürzlich, dass die Tara Rokpa Therapie für sie nichts sei ohne die Tiefe des Erforschens mittels Farbe und Ton. Zu ihrer Zeit habe es ein ganzes Wochenende gegeben, um den Gebrauch von Kunstmaterialien im Tara Rokpa Prozess zu erkunden. Es hieß einfach das Kunstwochenende, ohne weitere Funktion als eben die, die Gruppe tiefer in ihren eigenen Prozess gehen zu lassen während des zweijährigen Prozesses von Zurück zu den Anfängen.

Wenn wir uns die Art und Weise ansehen, wie unsere Sinne als Empfangskanäle für die Verarbeitung von Informationen dienen, als Stimmgabel der Wahrnehmung, dann verstehen wir, dass Kunstmaterialien uns sowohl mit dem Seh- als auch mit dem Tastsinn verbinden und dadurch auch mit den Elementen, wodurch sich wiederum unsere Sinneswahrnehmungen stark weiter entwickeln können.

Geschrieben Juni 2013, überarbeitet für das Tara Rokpa Magazin im September 2019

Beitragsbild: Bea Nothnagel