Artikel von Petra Niehaus in Buddhismus aktuell 1/2009
„Werdet wie Raum – er wird nie zu klein sein“ (Akong Rinpoche)
Tara Rokpa steht für ein langjähriges Trainings- und Therapieprogramm, bei dem Buddhismus und Psychotherapie in einzigartiger Weise zusammenspielen. Es wurde von dem tibetischen Arzt und Meditationslehrer Akong Rinpoche begründet, der sich wünscht, dass die Menschen glücklich und nützlich für andere sind.
Tara Rokpa gibt es seit über 20 Jahren. Viele Menschen zwischen Finnland und Südafrika, an ganz verschiedenen Orten der Welt, haben es mit einem Gefühl von Stärkung und Reifung durchlaufen. Der gesamte Therapieprozess umfasst vier Phasen und dauert etwa acht Jahre. Seit dem letzten Jahr können Unermüdliche sogar weitermachen: Eine neue Phase namens „Path of Heroes“ wurde konzipiert und mit weiteren sieben Jahren angesetzt. Das klingt für manche wie eine Ewigkeit und scheint unzeitgemäß. Für andere ist aber genau die Langfristigkeit attraktiv oder wird es im Laufe der Zeit. Ich selbst stieß 1990 auf Tara Rokpa. Ich erlebte Akong Rinpoche bei einem Vortrag, in dem er auch seine Therapie erwähnte. Seine lebenspraktische, erdige und gleichzeitig weise und schnörkellose Art gefielen mir sofort. Ich wusste, dass ich an dieser Art von Therapie teilnehmen wollte. Bei einem einführenden Wochenende in Berlin 1991 fanden sich 45 ähnlich Begeisterte zur ersten deutschen Tara-Rokpa-Großgruppe zusammen. In dieser wie in allen folgenden Gruppen gab es Nicht-Buddhisten wie Buddhisten. Manche wurden durch den Prozess zu Buddhisten, andere öffneten sich wieder ihrer Ursprungsreligion, wieder andere nahmen sich aus dem Prozess die Elemente, die ihnen gefielen, und brachten sie in ihren Alltag und ihre Arbeit ein, ohne sich als religiös zu bezeichnen oder sich philosophisch festzulegen. Alle profitierten also auf ihre Weise.
Selbsterfahrung auf hohem Niveau
Was Tara Rokpa in den ersten Jahren anbietet, ist ein weiträumiges, liebevolles, spielerisches, und lebendiges Erleben von sich selbst, eine Art Selbsterfahrung auf hohem Niveau mit therapeutischen Bezügen. Es basiert auf der Philosophie des Mahayana-Buddhismus und wurde von Akong Rinpoche begründet, einem Meditationsmeister und Arzt sowie Abt des Klosters Dolma Lhakang in Tibet. Nachdem er aus Tibet fliehen musste, baute er zusammen mit Chögyam Trungpa in den 6oer-Jahren das erste tibetisch-buddhistische Kloster und Zentrum im Westen auf, Samye Ling in Schottland. Zu Akong Rinpoche gesellten sich im Laufe der Zeit vier verschiedene Therapeutinnen und Therapeuten mit westlichen Ansätzen wie Kunst-, Körper- und systemischer Familientherapie. Ihre Sichtweise gründet sich auf den Konstruktivismus.
Gemeinsam entwickelten sie ein Programm, durch das buddhistisches Geistesgut westliche Menschen bis in ihre Tiefen erreicht und ihnen einen Zugang zu dem ermöglicht, was im Buddhismus Buddhanatur genannt wird. Auf diesem Weg werden persönliche Schwierigkeiten ernst genommen und bearbeitet. Insofern handelt es sich um eine wirkliche Therapie. Der Tara-Rokpa-Weg ist wie der Buddhismus ein Übungsweg. Heilsame Übungen werden erlernt und über Jahre hinweg wiederholt. So werden neue Gewohnheiten geschaffen, die eine veränderte Selbstsicht ermöglichen.
Heilende Entspannung
In den ersten Monaten, noch vor der ersten Phase, lernen die Teilnehmenden, sich zu entspannen. Diese „heilsame Entspannung“ ist für viele bereits eine große Herausforderung, denn Anspannung, Verspannungen und Stress sind weit verbreitet und sitzen tief. Akong Rinpoche legt größten Wert auf die Entspannung, sind doch ein verspannter Geist und Körper Ausdruck von und Nährboden für Verwirrung und Angst, für Krankheit und unangemessenes Handeln. Man übt Körperentspannung, Entspannung über den Atem und heilsame Visualisationen, die von Akong Rinpoche eigens für diesen Prozess entwickelt und ausgewählt wurden. Dies wird unterstützt durch eine freundliche, wechselseitige Massage, durch freies Malen und das Gestalten mit Ton sowie durch die Gemeinschaft mit anderen in einer Gruppe.
Der Tara-Rokpa-Prozess beginnt beim Einzelnen und seinem persönlichen Erleben (im Modul Zurück zu den Anfängen A. d. R.). Man lernt, sich besser zu verstehen, sich mehr zu mögen sowie liebevoller und mitfühlender mit sich zu sein. In der zweiten Phase des Prozesses beschäftigen sich die Teilnehmenden dann mit ihrer Lebensgeschichte. Sie erforschen, aus welchen Komponenten sich ihr Leben bisher zusammengesetzt hat, wie es geworden ist und wer daran beteiligt war. Sie erkennen das komplexe Geflecht von Bedingungen bis herunter zu dem grundlegenden Zusammenspiel der Elemente Erde, Wasser, Feuer, Luft und Raum. Sie untersuchen das System ihrer Familie genauso wie das System ihrer inneren Anteile. Die Lebensgeschichte wird dreimal aufgeschrieben und gemalt. Einmal rückwärts von heute bis zum Beginn, dann vom Anfang bis zur Gegenwart und dann noch einmal zurück zur Geburt. Hier schließt sich ein Retreat an, in dem auch die vorgeburtlichen Bedingungen angeschaut und gewürdigt werden, unsere früheste Art, uns in Bezug zum Leben auf der Erde zu setzen und dann bei einer Mutter und in einer Familie und Gesellschaft anzukommen. Das sogenannte Geburtsretreat ist aber nicht dazu gedacht, unsere Geburt noch einmal zu erleben. Im Gegenteil, es bietet Gelegenheit, mit dem kraftvollen Symbol „Geburt“ zu arbeiten, und sich nach ca. zweieinhalb Jahren des Erforschens der eigenen Lebensgeschichte selbst neu und bewusst ins Leben zu bringen und dies zu feiern.
Im Zentrum: Mitgefühl entwickeln
„Diese Therapie besagt: Alles beruht auf Mitgefühl. Mitgefühl sich selbst gegenüber, nicht nur für andere. Wir brauchen dies dringend: Uns verstehen, uns verzeihen und Mitgefühl mit uns selbst. Wir brauchen auch Mitgefühl für unsere Freunde und unsere Feinde. Denn Freund oder Feind und unsere eigenen Probleme – das alles bringt Missverständnisse und Verwirrung, erschaffen ohne jeglichen Grund. Daher ist Mitgefühl die Haupttherapie, die uns in die Lage versetzen kann, all unsere Schwierigkeiten zu überwinden, was sie auch sind.“ Akong Rinpoche
Während der Arbeit an unserer Lebensgeschichte begegnen wir nicht nur uns selbst, sondern auch vielen anderen Menschen. Manche von ihnen haben uns gut getan, andere verletzt, manche beides. Durch spezielle Übungen wie „Den Tiger zähmen“ werden wir in die Lage versetzt, mit Negativität, Hass und Groll umgehenzu lernen, weil wir die anderen auf einer tiefen Ebene zu verstehen beginnen. Die zarte Pflanze Mitgefühl, die Verständnis, Zuwendung und eine Bereitschaft zur Öffnung der Herzen einschließt, wird genährt und nach und nach auf immer mehr Menschen ausgedehnt: auf Eltern, Verwandte, Freunde, Feinde, Mitmenschen und schließlich alle Wesen. Hierbei werden die verschiedenen Ebenen des Leids der Wesen, wie sie im Buddhismus zum Beispiel in den „Sechs Daseinsbereichen“ erfasst werden, untersucht. Der Blick für das eigene Leiden und das Leiden der anderen wird umfassender, unparteilicher und durchdringender.
Farben als „Gegenmittel“
Verschiedene Methoden, um Leid konfrontieren, lindern und überwinden zu können, werden geübt. Die dritte Phase der „Sechs Lichter“ ermöglicht den Einsatz von heilendem, farbigem Licht als Gegenmittel oder Medizin für unangenehme, bedrängende und schmerzende Emotionen und Geisteszustände. Es ist spannend, die Wirkungsweise von Farben zu untersuchen und zu spüren. Hierzu wird viel gemalt und visualisiert. Schließlich wird auch das Mantra von Chenrezig, dem Bodhisattva des Mitgefühls, eingewoben. Jede Silbe hat einen Klang, jede Silbe hat eine Farbe. Beide wirken zusammen , entspannen, öffnen den Geist, bringen Frieden, aktivieren das in uns angelegte Mitgefühl und drücken es aus.
In der letzen Phase „Geistestraining – Mitgefühl“ wird das Mantra um die Visualisation von Chenrezig erweitert. Das Sieben-Punkte-Geistestraining (Lojong) wird studiert und geübt. Die Praxis des stillen Sitzens („Shine“ oder „Shamata“) wird wichtiger. Zur Geistesberuhigung kommen eine immer tiefer werdende Einsicht, wie der Geist funktioniert, und eine immer tiefer werdende Erfahrung, was die Natur des Geistes ist.
„Was wir erreichen wollen, ist grenzenloser Raum, dass der Geist wird wie der Raum. All die Dinge, die im Geist geschehen, ob Glück oder Unglück, Traurigkeit oder Vergnügen sind wie große Gebäude im Raum. Gleich wie viele Gebäude entstehen, es ist immer noch Raum. Dieser Weltraum kann nie gefüllt werden. Wenn du dir vorstellst, dass dein Geist wie der Raum ist, dann kannst du alle deine Probleme ohne Mühe verdauen. Dies fasst zusammen, was wir mit Tara-Rokpa-Therapie oder -Training erreichen wollen: dass ihr wie Raum werdet – dann könnt ihr bauen was ihr wollt. Der Raum wird nie zu klein werden!“ Akong Rinpoche in Berlin 1996
Das Ziel: glücklich und nützlich sein
Was Akong Rinpoche sich wünscht, ist, dass die Menschen, die den Prozess durchlaufen, glücklich sind sowie ihren Weg finden, mit ihrem Leben nützlich für andere zu sein und mitfühlend zu handeln. Viele langjährige Teilnehmer üben nach wie vor ihre früheren Berufe aus, leben in ihren Beziehungen, Kinder werden geboren und werden größer. Den Prozess zu durchlaufen, bedeutet im Normalfall nicht, eine dramatische Veränderung im Lebenslauf zu erleben. Im Prozess geht es eher um kontinuierliches, nachhaltiges Wachstum, Stabilität in der Praxis, eine veränderte Sicht- und Seinsweise.